Brief an Johann Wolfgang Goethe

Vorbemerkung: Da Goethe Wetzlar nachgewiesenermaßen am 11. September 1772 verließ und anschließend auf eine Woche im Hause La Roche sich aufhielt, dürfte dieser Brief kurz danach entstanden sein. Ein genaues Datum ist aber nicht bekannt.


Mein lieber junger Freund,

es ist vielleicht der falsche Zeitpunkt, trotzdem möchte ich Ihnen gerne einen Rat geben. Ja, ja, wir wissen alle nur zu gut, dass Sie schon seit längerer Zeit als Hallodri in allen Gemächern für Furore sorgen. Bedenken sollten Sie dabei aber, dass nicht Jeder solch ein Gebaren gutheißt. Vielen Ehemännern ist es nicht sehr recht, wenn man ihnen Hörner aufsetzt.

Ich schreibe Ihnen dies, weil ich mir Sorgen um Sie mache. Ja, werter Herr Goethe, in ganz Frankfurt und Umgebung ist von nichts anderem mehr die Rede, als von Ihren häufigen Besuchen im Hause La Roche. Sie werden nun einwenden, dass wohl nichts Unrechtes dabei sei, der hochverehrten Frau von La Roche die Aufwartung zu machen. Das mag sein. Doch es ist ja wohl kaum die von uns allen so hochgeschätzte Dame des Hauses, der Sie die Reverenz erweisen. Nein, alle Welt weiß, dass Sie nur der Tochter wegen zu Besuch kommen.

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Sind Sie nicht eben erst überstürzt aus Wetzlar abgereist, weil Sie dort eine Neigung zu einem Mädchen gefasst hatten, das schon einem anderen versprochen war? Können Sie es also vor Ihrem Gewissen verantworten, sogleich wieder Feuer zu fangen und wie ein selbstverliebter Gockel der jungen La Roche hinterherzustiefeln? Angesichts Ihres Temperaments sollten Sie sich ohnehin immer erst zweimal bedenken, bevor Sie sich ins Unglück stürzen.

Ich weiß wohl, dass die Kleine Ihre Herz rasen macht mit ihren schwarzen Augen unter dem kastanienbraunen Haaren. Doch nein, werter Herr Goethe, lassen Sie sich von einem Freund einmal belehren: Von einer Blüte zur anderen zu fliegen, ohne zwischendurch auch nur einmal Luft zu holen – das geht nicht an.

Und noch eins: Wissen Sie denn nicht, dass die junge La Roche schon längst einem anderen anverlobt ist? Das ist Ihnen doch wohl hoffentlich nicht vollkommen schnuppe? Oder lässt Sie das alles gleichgültig? Nein, das denke ich nicht. Sie kennen doch sicher das Handelshaus in der Großen Sandgasse? ›Zum goldenen Kopf‹ heißt es wohl. Ob der Brentano nun ein lieber und braver Mann ist, vermag ich nicht zu beurteilen, aber das tut auch nichts zur Sache. Wichtig ist nur, dass er das Rennen gemacht und Sie aus dem Feld geschlagen hat. Aber nehmen Sies nur nicht zu schwer, es gibt noch genug andere Bettschätze.

Meinen herzlichsten Gruß an Ihre teure Frau Mutter.

Unterschrift

PS: Vielleicht sollten Sie sich Ihren Frust einfach mal von der Seele schreiben. Das tut immer gut.