Der schriftliche Nachlass der Anne Frank

Anne Frank hat außer ihrem Tagebuch noch andere Schriften hinterlassen, die inzwischen samt und sonders in gedruckter Form vorliegen. Nachfolgend ein kurzer Überblick.


Das kleine Album fällt einem sofort ins Auge. Es ist fast quadratisch, nicht sehr viel größer als eine moderne CD-Hülle (14,3 mal 16,6 Zentimeter), dafür aber umso bunter: rote, weiße, grüne, graue Karos auf dem Umschlag – außergewöhnlicher geht es kaum noch.

Anne Frank hatte sich dieses Büchlein mit den unlinierten Seiten selbst in einer Buchhandlung ausgesucht und zu ihrem 13. Geburtstag am 12. Juni 1942 schenken lassen.

Obwohl es eigentlich ein Poesiealbum war, nutzte sie es ausschließlich als ganz privates Journal, das zunächst einmal nur für sie selbst und niemand sonst bestimmt war. Noch an ihrem Geburtstag nahm sie sich Zeit für eine erste kurze Notiz:

Ik zal hoop ik aan jou alles kunnen toevertrouwen, zoals ik het nog aan niemand gekund heb, en ik hoop dat je een grote steun voor me zult zijn.

Ich werde hoffe ich dir alles anvertrauen können, wie ich es noch an niemand gekonnt habe, und ich hoffe, dass du eine große Stütze für mich sein wirst.

[12. Juni 1942]

Bis zum 5. Dezember 1942 führte Anne Frank ihr Tagebuch akribisch weiter, bevor sie das fast vollgeschriebene Poesiealbum beiseite legte und für ihre weiteren Notizen auf Schulhefte zurückgriff. Dennoch holte sie auch später immer mal wieder das erste Album hervor, erweiterte manche Textstellen und benutzte einige leergebliebene Seiten. Erhalten geblieben sind letztlich folgende Dokumente, denen sie ihr gesamten Tagebuchnotizen anvertraute:

  • ein Schulheft mit liniertem Papier, einem schwarzen Umschlag und schwarzem Leinenband; die Maße einer Seite betragen hier 16,4 mal 20,7 Zentimeter. Die erste Eintragung ist auf den 22. Dezember 1943 datiert, der letzte Eintrag auf den 17. April 1944. Aufgrund der langen Pause, die zwischen dem letzten Eintrag des Geburtstagtagebuchs (5.12.1942) und dem ersten Eintrag dieses Heftes (22.12.1943) liegt, können wir davon ausgehen, dass ein Teil der Originalnotizen verlorengegangen ist.
  • ein Schulheft mit liniertem Papier und grün/gold gesprenkeltem Umschlag mit schwarzem Leinenband; die Maße einer Seite betragen auch hier 16,4 mal 20,7 Zentimeter. Das Tagebuch beginnt am 17. April 1944 und endet am 1. August 1944.
  • drei Mappen von losen Blättern unlinierten Papiers, die Anne Frank hauptsächlich dazu nutzte, um eine neue Version ihres Tagebuchs zu erstellen.

Die Idee dazu kam ihr, nachdem sie am 28. März 1944 eine Radiosendung gehört hatte, in welcher Gerrit Bolkestein, der ›Minister für Unterricht, Künste und Wissenschaften der niederländischen Exilregierung in London‹ (Minister van Onderwijs, Kunsten & Wetenschappen van de Nederlandse Regering in Londen), von der Notwendigkeit gesprochen hatte, alle nur greifbaren Schriftstücke aufzubewahren, zusammenzutragen und nach Kriegsende zu veröffentlichen – darunter auch Tagebücher. Anne Frank beschloss umgehend, mit ihren eigenen Aufzeichnungen zu diesem Projekt beizutragen:

Gisteravond sprak minister Bolkestein voor de Oranjezender erover dat er na de oorlog een inzameling van dagboeken en brieven van deze oorlog zou worden gehouden. Natuurlijk stormden ze allemaal direct op mijn dagboek af. Stel je eens voor hoe interessant het zou zijn als ik een roman van het Achterhuis uit zou geven. Bij de titel alleen zouden de mensen denken dat het een detectiveroman was.

Gestern Abend sprach Minister Bolkestein im Sender Oranje darüber, dass nach dem Krieg eine Sammlung von Tagebüchern und Briefen aus dieser Zeit herauskommen soll. Natürlich stürmten alle gleich auf mein Tagebuch los. Stell dir vor, wie interessant es wäre, wenn ich einen Roman vom Hinterhaus herausgeben würde. Nach dem Titel allein würden die Leute denken, dass es ein Detektivroman wäre.

[29. März 1944]

Daraufhin begann sie, ihr Originaltagebuch quasi noch einmal auf den losen Blättern neu zu schreiben, indem sie alte Stellen korrigierte, wegstrich oder Neues aus dem Gedächtnis hinzufügte. Unter anderem stellte sie eine Liste mit Namensänderungen zusammen: Anne wollte sich erst ›Anne Aulis‹, später ›Anne Robin‹ nennen, die Familie van Pels wurde zu ›van Daan‹, Fritz Pfeffer zu ›Albert Dussel‹.

Auch die Erlebnisse aus dem Jahr 1943 finden sich auf den losen Blättern wieder, was darauf schließen lässt, dass Anne Frank die später verlorengegangen Originalhefte zu jener Zeit noch zur Verfügung gestanden haben müssen. Die Kritische Ausgabe der Tagebücher bezeichnet diese neue Fassung als ›Version b‹, im Gegensatz zum ursprünglichen Tagebuch (›Version a‹), das sie auch nach dem 28. März 1944 noch weiterführte.

Anne Frank war es in der kurzen Zeit bis zu ihrer Verhaftung Anfang August allerdings nicht vergönnt, ihrem gesamten Tagebuch eine neue Form zu geben. Der letzte Tagebuchbrief auf den losen Blättern trägt das Datum des 29. März 1944, weiter war sie bei der Neugestaltung nicht gekommen.

Letztlich wurde freilich keine der beiden Versionen veröffentlicht. Die Edition, die Annes Vater Otto Frank nach dem Krieg vorlegte (›Version c‹), baute hauptsächlich auf den losen Blättern auf, wurde aber noch ergänzt mit Passagen von ›Version a‹ sowie Teilen aus dem so genannten Geschichtenbuch, einem kartonierten Heft, worin Anne Frank 35 ihrer Erzählungen gesammelt hatte; acht davon sind auch auf den losen Blättern zu finden:

  1. Wurde eingebrochen? (auf losem Blatt, 25. März 1943)
  2. Der Zahnarzt (10. Dezember 1942)
  3. Wursttag (10. Dezember 1942)
  4. Der Floh
  5. Weißt du noch?
  6. Das begehrte Tischchen
  7. Anne und die Theorie (29. Juli 1943)
  8. Der Streit über die Kartoffeln
  9. Der Abend und die Nacht im Hinterhaus (4. August 1943)
  10. Mittagspause (9. August 1943)
  11. Das Hinterhaus mit 8 Leuten am Tisch (9. August 1943)
  12. Wenn die Uhr halb neune schlägt
  13. Schufte!
  14. Die tägliche Pflicht in der Gemeinschaft: Kartoffelschälen!
  15. Die Freiheit im Hinterhaus
  16. Kaatje (7. August 1943)
  17. Die Pförtnerfamilie
  18. Mein erster Lyzeums-Tag
  19. Eine Biologiestunde
  20. Eine Mathematikstunde
  21. Evas Traum
  22. Pensionsgäste oder Untermieter
  23. Paulas Flug
  24. Filmstar-Illusionen
  25. Katrientje
  26. Sonntag
  27. Das Blumenmädchen
  28. Mein erstes Interview
  29. Der Sumpf des Verderbens
  30. Der Schutzengel
  31. Das Glück
  32. Angst
  33. Gib!
  34. Der kluge Zwerg
  35. Blurry, der Weltentdecker

Fünf weitere Erzählungen stehen nicht im Geschichtenbuch, sondern lediglich auf den losen Blättern, das sind:

  1. Rick
  2. Joke
  3. Warum?
  4. Wer ist interessant?
  5. Die Fee

Dazu kommt noch ein Romanfragment, Cadys Leben, das sie auf den leeren Schlussseiten ihres Tagebuchheftes, das sie vom 22. Dezember 1943 bis zum 17. April 1944 führte, niederschrieb – und zwar von hinten nach vorne. So richtig kam sie damit aber offensichtlich nicht voran, wie sie einmal selbst anmerkte:

Aan Cady’s leven heb ik lang niet meer gewerkt, in m’n gedachten weet ik precies hoe het verder zal gaan, maar het vlot niet goed. Misschien komt het nooit af, komt het in de prullenmand of kachel terecht.

An Cadys Leben habe ich lange nichts mehr getan. In meinen Gedanken weiß ich genau, wie es weitergehen soll, aber es ist nicht so richtig geflossen. Vielleicht wird es nie fertig, vielleicht landet es im Papierkorb oder im Ofen.

[5. April 1944]

Wie wichtig ihr die Arbeit an Cadys Leben war, ist der kleinen Notiz zu entnehmen, die sie am 11. Mai 1944 fast schon entschuldigend dem zuvor ausgebreiteten Entwurf für die geplante Handlung folgen ließ:

Het is geen sentimentele onzin, want de roman van vaders leven is erin verwerkt.

Das ist kein sentimentaler Unsinn, denn Vaters Lebensroman ist darin verarbeitet.

[11. Mai 1944]

Zusätzlich zu den Tagebuch-Unterlagen (Album, Hefte, lose Blätter) sowie dem Geschichtenbuch führte Anne Frank noch ein weiteres Buch, das heute allgemein als ›Schöne-Sätze-Buch‹ bekannt ist. Darin finden sich Zitate von Dichtern wie Goethe, Thomas Carlyle, John Galsworthy, Jacob van Maerlant oder Justus van Maurik. Zudem sind vereinzelte Arbeiten erhalten geblieben, unter anderem eine Übersetzung aus dem Französischen sowie Notizen für Stammbäume von Fürstenhäusern.


Über die Dokumente informieren uns zwei Bücher: (1) Niederländisches Staatliches Institut für Kriegsdokumentation (Hg.): Die Tagebücher der Anne Frank (Frankfurt am Main: S. Fischer 1993), hier besonders S. 141 (Tagebuchdokumente), und (2) Anne Frank: Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus (Frankfurt am Main: Fischer 2005), hier S. 19 (Erzählungen); das Urheberrecht für die Zitate liegt beim ANNE FRANK-Fonds in Basel, dem wir für die freundliche Abdruckgenehmigung danken; zitiert wird nach → Tagebuch 2003 und → Het Achterhuis 2008.