Emily Dickinson. Amerikas Dichterin

Emily Dickinson hat zu ihren Lebzeiten gerade einmal ein Gedicht veröffentlicht. Heute gilt sie als Amerikas größte Dichterin. Und das ganz zu Recht.


Keiner kannte sie. Wie auch, da sie ja die meiste Zeit wie eine Nonne in ihrem Häuschen vor sich hin lebte? Und von ihren Gedichten waren eh nur sieben Stück zu ihren Lebzeiten veröffentlicht worden. Kein Wunder also, dass sie ihren Zeitgenossen fast völlig unbekannt war, keiner ihrer Landsleute auch nur den leisesten Schimmer davon hatte, dass die größte Dichterin, die ihr Land je besessen, unter ihnen lebte. Wer also ist Emily Dickinson?

Emily Elizabeth Dickinson kam am 10. Dezember 1830 als zweites Kind von Emily Norcross und Edward Dickinson in Amherst im US-Bundesstaat Massachusetts auf die Welt. Sie hatte einen älteren Bruder (William Austin, geboren am 16. April 1829) sowie eine jüngere Schwester (Lavinia, geboren am 28. Februar 1833). Ihre Verwandten waren so etwas wie lokale Berühmtheiten in der nur 3000 Einwohner zählenden Kleinstadt im Osten der USA.

So gehörte ihr Großvater Samuel Fowler Dickinson im Jahre 1914 zu den Gründern des trinitarischen Colleges von Amherst, während ihr Vater und ihr Bruder als Anwälte (und Finanzverwalter des Colleges) eine herausragende Rolle im gesellschaftlichen Leben von Amherst spielten. Zudem saß ihr Vater lange Jahre im Landesparlament von Massachusetts, ehe er ab 1853 seinen Staat sogar als Abgeordneter der Whigs im Repräsentantenhaus vertrat.

Emily besuchte zunächst für vier Jahre die Grundschule in Amherst, ging danach zur Amherst Academy, bevor sie nach sieben Jahren zum Mount Holyoke Female Seminary in South Haley wechselte, wo sie aber nur ein Jahr lang blieb. Während ihrer Schulzeit schloss sie zahlreiche Freundschaften, nahm am gesellschaftlichen Leben teil, gehörte einem Shakespeare-Kreis an, las sehr viel und unternahm auch die eine oder andere Reise ins Umland.

Nach Ende ihrer Schulzeit kehrte sie nach Amherst zurück, wo sie ihre ersten Verse zu schreiben begann. 1852 war es dann endlich soweit: Der Springfield Daily Republican druckte ihr Valentinsgedicht ab, das sie bereits zwei Jahre zuvor geschrieben hatte.

Mitte der 1850er-Jahre begann Emily dann aber, sich immer mehr von der Welt abzukapseln. Nach ihren Ausflügen nach Washington und Philadelphia im Jahre 1855 hielt sie sich fast nur noch in Amherst auf, verließ später nicht einmal mehr Haus und Garten. In dieser Zeit begann dafür aber ihre produktivste Zeit als Dichterin: In den Jahren von 1858 bis 1864 entstanden mehr als 700 Gedichte.

Nachdem sie im Atlantic Monthly einen Artikel von Thomas Wentworth Higginson gelesen hatte, wagte sie es am 15. April 1862 sogar, dem Autor einen Brief zu schreiben, worin sie ihn bat, sich über ihre Verse zu äußern. Da Higginson mit ihren Gedichten nicht recht umzugehen wusste, riet er ihr zunächst einmal, ihre Zeilen lieber nicht zu publizieren; trotz dieser ursprünglichen Zurückhaltung war er nach ihrem Tod umso eifriger darum bemüht, die Dichterin bekannt zu machen.

In den Jahren 1864 und 1865 erkrankte Emily an den Augen, was dazu führte, dass sie ihr geliebtes Heim in Amherst noch einmal verlassen musste. Die langwierige Behandlung in Boston verlief wohl erfolgreich, denn ab 1866 sollte sie das Leiden in ihren Briefen nie mehr erwähnen.

Die letzten 20 Jahre ihres Lebens verbrachte sie wieder in Amherst, wo sie sich die Zeit weiter mit dem Schreiben von Briefen und Gedichten vertrieb. Ab November 1885 schon bettlägerig, ging es im Mai rapide mit ihr bergab. Am 13. Mai 1886 verlor sie das Bewusstsein, das sie bis zu ihrem Tod um 18 Uhr am 15. Mai nicht mehr wiedererlangte.

Um ihren literarischen Nachlass hat sie sich nicht weiter gekümmert, dafür aber hatte sie ihr eigenes Begräbnis exakt durchgeplant. So wurde ihr Sarg nach einer kurzen Trauerrede zum Familiengrab getragen, wo Thomas Wentworth Higginson ein Gedicht rezitierte. Kein Dickinsonsches aber, sondern Emily Brontës No Coward Soul Is Mine, dessen ›marvellous verse‹ (wunderbare Verse) Dickinson in ihrer Korrespondenz insgesamt dreimal erwähnt.


Die biografischen Angaben sind dem Briefband Wilde Nächte. Ein Leben in Briefen entnommen (→ Dickinson 2006).