Jahrgang 1902

Wenn man in alten Magazinen blättert, stößt man häufig auf Rezensionen, die einen neugierig auf das besprochene Buch machen. So führt ein Text von Carl von Ossietzky dazu, dass jetzt auch ein Buch über den Ersten Weltkrieg auf unserem Nachttisch liegt: Jahrgang 1902 von Ernst Gläser.


Daten zum Buch

  • Autor: Ernst Glaeser
  • Titel: Jahrgang 1902
  • Genre: Roman
  • Verlagsort der Erstausgabe: Potsdam
  • Verleger: Gustav Kiepenheuer Verlag
  • Erscheinungsjahr: 1928

1902 – das war das Jahr, als der Burenkrieg in Südafrika zu Ende ging, Kuba seine Unabhängigkeit von den USA erhielt, der Altertumswissenschaftler Theodor Mommsen den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam, der Ausbruch des Mont Pelé auf der Antilleninsel Martinique etwa 30.000 Todesopfer forderte, die ersten Mitglieder den Madrid Foot Ball Club (vulgo Real Madrid) amtlich als Verein registrieren ließen, der deutsche Arzt Rudolf Virchow, der deutsch-amerikanische Unternehmer Levi Strauss sowie der französische Schriftsteller Émile Zola starben.

1902 war aber auch das Jahr, als der deutsche Schriftsteller Ernst Glaeser geboren wurde. Der Butzbacher gehörte also zu eben jenem Jahrgang, von dem sein erfolgreichstes Buch handelt, das 1928, zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, erschienen ist. Erinnerungen aus seiner Jugendzeit in Groß-Gerau verarbeitend, schildert er darin seine eigene Entwicklungsgeschichte sowie die politischen Verhältnisse in den letzten Monaten vor Beginn des Ersten Weltkriegs und die folgenden Kriegsjahre.

Es ist ein beeindruckendes Zeitdokument, das die Atmosphäre jener Jahre in anschaulicher Art wiedergibt. Carl von Ossietzky erklärte Glaesers Buch in der Weltbühne vom 2. Oktober 1928 (S. 529) sogar zu einem jungen Meisterstück, das nachhole, was die deutschen Romanschreiber bisher übersehen hätten: wie die Heimat im Krieg gewesen sei.

Für Glaeser, den heutzutage kaum noch jemand kennt, bedeutete das Buch den Durchbruch, national wie international. Immerhin, man darf es nicht vergessen, ist der Roman in 24 Sprachen übersetzt worden – eine Ehre, die nur ganz wenigen Büchern widerfährt. Warum aber war Glaesers Werk so populär? Wahrscheinlich wohl deshalb, weil es ein zeittypischer Roman ist, der den Nerv einer ganzen Generation getroffen hat, der Generation der vorigen Jahrhundertwende.

Wenn Glaeser allerdings im Vorwort der 1947 im Wiesbadener Limes-Verlag erschienenen Neuausgabe stolz darauf hinweist, er dürfe sein Buch nach dessen Verfolgung durch die Reaktion und nach der Verbrennung durch die Nationalsozialisten erneut der deutschen Öffentlichkeit übergeben, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass er Ende der 30er-Jahre, nur wenige Jahre nachdem sein Buch verbrannt worden war, freiwillig wieder nach Deutschland zurückgekehrt war und sich mit den Nazis arrangiert hatte.

Für Aufregung innerhalb der Emigrantenkreise hatte er schon vorher gesorgt, als er öffentlich für den Anschluss Österreichs eingetreten war. Noch mehr Gegner brachten ihm verständlicherweise seine späteren Artikel in einem Propagandablatt ein, in denen er seine Landsleute zum Kampf gegen die Alliierten aufrief. Nach dem Krieg versuchte er sich zwar zu rechtfertigen, sein früheres Ansehen sollte er aber nie wieder zurückgewinnen.

Glaesers Entwicklung hin zum Konservativen ist umso erstaunlicher, als er in seinem Roman noch ganz andere Ansichten vertreten hatte. Als Moralist prangert der Icherzähler die gesellschaftlichen Missstände an, attackiert die politisch verblendete Elterngeneration und legt den Finger auf eine ganz besondere Wunde, die des Antisemitismus nämlich.

Als einziger Jude der gesamten Quarta von allen Seiten drangsaliert, steht sein Jugendfreund Leo Silberstein, ein kränkelnder, schwächlicher Junge, ganz alleine da in der Schule. Der Erzähler würde ihn gerne beschützen, doch ist Leo das auch recht? Denn jemand wie er, sagt Leo, werde niemals geliebt, selbst von denen nicht, die ihn schützen wollten. Darauf weiß der Icherzähler nichts zu sagen, so ein Dasein kennt er nicht.

Der zweite gute Kamerad des Icherzählers heißt Ferd von K., dessen Vater wegen seines Hasses auf Wilhelm II. nur als ›roter Major‹ bekannt ist. Der Erzähler bewundert alle beide, Ferd genauso wie den Vater, sind sie doch so ganz anders als die übrige Gesellschaft, die wie blöde am Munde des Kaisers hängt, der im nationalen Größenwahn auf Teufel komm raus einen Krieg heraufbeschwören wird.

Außer dem Antisemitismus und der politischen Verblendung beklagt der Icherzähler auch die sexuelle Prüderie der Elterngeneration. Da er von deren Seite keine Hilfe erfährt, versucht er das von ihm so genannte ›Geheimnis‹ schließlich eigenständig zu ergründen. Das geht gründlich schief, er missversteht die Szene, Aufklärung findet er jedenfalls nicht.

Jahre später lernt der Erzähler die junge Anna kennen, in die er sich sterblich verliebt. Doch kurz bevor sie ihm das sagenumwobene Geheimnis offenbaren kann, geraten sie in einen Fliegerangriff, den nur einer von den beiden überleben wird.