Verney. Der letzte Mensch

Endzeitszenarien sind bei Autoren ein beliebtes Thema. Ein frühes Beispiel findet sich bei Mary Shelley, die schon 1826 einen entsprechenden Roman veröffentlicht hat: Verney. Der letzte Mensch.


Daten zum Buch

  • Autorin: Mary Shelley
  • Titel: The Last Man
  • Genre: Roman
  • Verlagsort der Erstausgabe: London
  • Verleger: Henry Colburn
  • Erscheinungsjahr: 1826
  • Deutsche Erstausgabe: Verney. Der letzte Mensch (Bergisch-Gladbach: Bastei Lübbe Verlag 1982, Übersetzung: Ralph Tegtmeier)

Frankenstein, klar, den kennt jeder. Wenn nicht das Buch, so doch wenigstens eine der zahlreichen Verfilmungen um den Genfer Doktor der Naturwissenschaften und das von ihm geschaffene Monster, das in dem maßgebenden Streifen aus dem Jahre 1931 (und in den beiden Nachfolgern von 1935 und 1939) von Boris Karloff so schrecklich-schön dargestellt worden ist wie sonst wohl nie mehr wieder.

Doch Mary Shelley hat noch viel mehr Bücher geschrieben als nur Frankenstein, so zum Beispiel The Last Man, das sie 1826 herausbrachte, also acht Jahre nach ihrem Weltbestseller. Wenn es einen englischsprachigen Roman gibt, der es verdiente, noch einmal in einer neuen Übersetzung herausgebracht zu werden, dann wohl The Last Man. Wer nämlich die Geschichte von Verney, dem letzten Menschen, auf Deutsch lesen will, der muss zu jener Ausgabe greifen, die Bastei Lübbe 1982 in seiner Reihe der fantastischen Literatur (Band 72021) herausgebracht hat. Es gibt nur leider ein Problem: mit seiner doch eher stümperhaften Edition ist der Verlag der Autorin nun wirklich nicht gerecht geworden.

Die deutschsprachige Fassung taugt in der Tat nicht allzu viel, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen hat dort (zumindest in dem Buch, das auf meinem Nachttisch liegt) der Druckfehlerteufel sein Unwesen getrieben (und nicht zu kurz, wie ich anmerken muss); zum zweiten, und das ist 10-mal schlimmer, sind etliche Abschnitte der Schere zum Opfer gefallen und lediglich in Kurzform von Übersetzer Ralph Tegtmeier zusammengefasst worden.

Allein kurz vor dem Ende des ersten Bandes muss die Leserin in kurzer Zeit gleich drei lediglich in Kursivschrift kenntlich gemachte Inhaltsangaben längerer Handlungsabläufe über sich ergehen lassen (S. 76, S. 77, S. 82) – das ist wirklich unentschuldbar. Auch zwischen Seite 100 und Seite 170 sind allein neun Stellen gestrichen worden. Da stellt sich natürlich die Frage, ob der Verlag auch bei anderen Büchern dieser Reihe so verfahren ist? Ich weiß es nicht. Eine Schande ist es in jedem Fall.

Eins lässt sich mit Sicherheit feststellen: Mary Shelley war alles andere als eine Seherin. Verney. Der letzte Mensch spielt zwar gegen Ende des 21. Jahrhunderts, technische Fortschritte suchen wir aber vergebens. Es sieht fast so aus, als hätte der Mensch sein Streben nach Weiterentwicklung mit einem Male einfach eingestellt.

Noch immer beispielsweise vertrauen die Menschen auf Pferde als Beförderungsmittel (hoch zu Ross oder in einer Kutsche), überm See wird wie selbstverständlich eine Fregatte benutzt. Einmal immerhin führt die Reise durch die Luft, zu welchem Zweck ein Segelballon mit gefiedertem Steuerruder zum Einsatz kommt (S. 67). Warum aber ist Mary Shelley in dieser Hinsicht so blind gewesen? Ob ihr der nötige technische Verstand gefehlt hat? Schon möglich, trotzdem hätte sie ja mal einen Schuss ins Blaue wagen können.

Auch der Krieg wird entsprechend mit den Mitteln des frühen 19. Jahrhunderts geführt. Übrigens handelt es sich dabei um einen Krieg zwischen Griechenland und der Türkei, der also auch in damals ferner (heute nicht mehr ganz so ferner) Zukunft noch immer anhält.

Für die Griechen läuft es außerordentlich gut, sie haben Trakien und Mazedonien zurückerobert und sind bis vor die Tore Konstantinopels vorgedrungen. Natürlich stehen die meisten europäischen Staaten den Griechen zur Seite, aus einem ganz speziellen Grund freilich: ihrer wirtschaftlichen Macht wegen (S. 110). Ja, in Shelleys Welt sind Moody’s und Co. noch unbekannt.

Noch einen zweiten Grund gibt es aber, den Griechen den Sieg zu gönnen. Sie stellen sich den bösen Muselmanen entgegen, die die ganze Welt zu unterjochen gedenken. Es ist ein lebensnotwendiger Kampf, ein Kampf gegen die Kugeln und Krummsäbel der Ungläubigen (S. 123). Andersgläubige sind in den Augen des Feindes halt immer Ungläubige – das gilt für die eine genauso wie für die andere Seite.

Was ich zuletzt zu sagen vergessen habe: Ich begegne immer weiteren Kürzungen im Buch von Mary Shelley. So sind allein zwischen Seite 100 und Seite 170 neun Stellen gestrichen worden; noch einmal seis gesagt –: eine Schande.

Werfen wir an dieser Stelle einmal kurz einen Blick auf die zwei Protagonisten des ersten und des zweiten Bandes. Schnell wird wohl klar, wer als Vorbild für die beiden Figuren herhalten musste. Während Adrian, der Graf von Windsor, Percy Shelley nachempfunden ist, ist in Lord Raymond, dem späteren Lordprotektor Englands, natürlich Lord Byron zu sehen.

Eigensinnig und skrupellos verachtet dieser einen Großteil der Menschen um ihn herum; fremd geht er zwar nicht, untreu ist er seiner Gemahlin aber trotzdem in gewisser Weise. Adrian dagegen ist so etwas wie eine Lichtgestalt, ein Mensch ohne Fehl und Tadel, so wie ihn Mary wohl vor allem nach seinem Tode gesehen hat.

Lionel Verney, der Icherzähler, ist der Dritte in diesem Bunde und müsste eigentlich eine Frau sein, denn die Dritte im Bunde Percy Shelleys und Lord Byrons ist natürlich Mary Shelley selbst gewesen. (Aber ganz so deutlich wollte sie es vielleicht doch nicht darstellen.) Verneys Schwester Perdita wiederum vereint Eigenschaften von gleich zwei Vorbildern in sich, die der Autorin und die von deren Stiefschwester Claire Clairmont (die wiederum mit Byron als Folge einer kurzlebigen Affäre eine gemeinsame Tochter hatte.)

Die Pest hat sie also alle dahingerafft, die Menschheit ist am Ende. Drei Menschen haben überlebt, Adrian, Verney und dessen Nichte Clara. Zumindest sehen sie sich selbst als die letzten drei Überlebenden einer aussterbenden Rasse an. Woher sie aber wissen wollen, dass sie allein sind, will sich mir nicht so recht erschließen. Ganz so klein ist die Erde nun auch wieder nicht, in irgendeinem fernen Winkel wird sich der eine oder die andere vielleicht ja doch noch finden lassen. Oder etwa nicht?

Wie auch immer, zwei Männer und eine Frau sollten immer noch in der Lage sein, um einen Neubeginn in die Wege zu leiten. Man muss doch an die Zukunft denken. Sicher, als Blutsverwandte sollten Verney und Clara wohl besser die Hände voneinander lassen, Adrian und Clara haben aber freie Hand. Was nur, wenn Adrian aus irgendeinem Grund nicht kann? Da stehen wir vor einem ethisch-moralischen Problem, das wir nicht zu lösen imstande sind.

Aber die Betroffenen selbst müssen es ja gar nicht lösen, Adrian und Clara kommen vorher in einem Schiffbruch ums Leben. Welch anderes Ende hätte es für Adrian alias Percy Shelley wohl geben können? Lionel Verney ist also der letzte Mensch auf Erden, schreibt seine Geschichte (die Geschichte des Endes der Menschheit) aber trotzdem getreulich auf.

Fragt sich nur, an wen er sich eigentlich damit wenden will? An seine Leserinnen wahrscheinlich, die er an einer Stelle explizit anspricht (S. 185). Wer aber mag das sein, da doch die gesamte Menschheit ausgestorben ist? Außerirdische vielleicht? Wir wissen es nicht.