Ein Plagiat, das keines war

Beim Blättern in Tucholskys Texten stoßen wir auch auf einen vermeintlichen Skandal der 30er-Jahre: Irmgard Keun war damals eine bekannte deutsche Schriftstellerin, die auch international viel Anerkennung genoss. Nach Veröffentlichung ihres zweiten Romans gab es allerdings einen Kollegen, der sie des geistigen Diebstahls bezichtigte. Doch wie gerecht war die Anschuldigung? War Das kunstseidene Mädchen tatsächlich ein Plagiat?


Die Inspiration kommt immer irgendwoher. Oft aus dem Leben, manchmal auch aus einem Buch. Selbst der zweite Fall ist meist ganz harmlos, auch wenn Autoren schon ein bisschen darauf achten sollten, wie viel sie von anderen übernehmen; ein ganzes Buch zu kopieren, ist eindeutig zu viel des Guten.

Wer aber macht das schon? Solche Fälle sind jedenfalls absolute Ausnahmen, fast immer werden nur Kleinigkeiten abgeschrieben, hier mal ein Halbsatz, dort mal ein ganzer Abschnitt. Lässliche Sünden. Was aber, wenn ein imaginärer Ton geklaut wird? Geht so etwas überhaupt? Irmgard Keun ists einmal fast gelungen.

Anfang der 30er-Jahre erregte Keun in Deutschland mehr Aufmerksamkeit als jede andere Schriftstellerin. Und das aus gutem Grund, war doch ihr 1931 vorgelegter Roman Gilgi, eine von uns ein ganz erstaunliches Debüt, das auch bei der Kritik gut ankam.

›Eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an!‹, zeigte sich beispielsweise Kurt Tucholsky in seiner Kolumne ›Auf dem Nachttisch‹ positiv überrascht (→ TT1, S. 180). Sicher, es gab auch Tadel, aber warum auch nicht? Tucholsky wusste: Hier war ein Talent, das sich zu kritisieren lohnte.

Das Lob zeigte auch beim Publikum Wirkung: Gilgi entwickelte sich zum Kassenschlager, und Keun war mit einem Male eine der am meisten gelesenen deutschen Schriftstellerinnen.

Nur ein Jahr später legte Keun ein zweites Buch vor, Das kunstseidene Mädchen, das dunkel an den später so erfolgreich verfilmten Bestseller Blondinen bevorzugt erinnert.

Es geht darin um die junge Doris, eine 18-Jährige aus kleinen Verhältnissen, die von der Welt der Reichen und Schönen träumt. Tucholsky war erneut voll des Lobes und sprach davon, dass hier etwas heranwachse, was es noch niemals gegeben habe: eine deutsche Humoristin (→ TT2, S. 38).

Doch schon bald entwickelte sich eine Kontroverse um den neuen Roman. So berichtete Lisa Matthias, Tucholskys berühmtes Lottchen, in ihren Erinnerungen über den Eindruck, den sie von Keuns zweitem Roman gewonnen hatte. Begeistert war sie nicht. Ihrer Meinung nach hatte Keun einen großen Teil anderswo abgeschrieben (→ Matthias, S. 83 f.). Vorlage soll der 1931 erschienene Kurzroman Karriere von Robert Neumann gewesen sein. Auch Neumann war offenbar von einem Plagiat überzeugt. Sein von Matthias zitierter Brief (S. 84 f.) lässt jedenfalls keinen anderen Schluss zu.

Tucholsky war baff. Nachdem Keun sich um Vermittlung in dem sich anbahnenden Plagiatsstreit gebeten hatte, schrieb er ihr einen langen Brief, in dem er zu einem eindeutigen Urteil kam: Für ihn, der Neumanns Buch vorher nicht gekannt hatte, hatte Keun sich tatsächlich bei Neumann bedient – ein vernichtendes Urteil.

Doch lag Tucholsky damit richtig? Hat Keun, die 1935 in die Niederlande emigrierte, tatsächlich bei Neumann abgeschrieben?

Wer beide Bücher nebeneinander liest, muss sich schon fragen, wie Tucholsky zu so einem Urteil gelangen konnte. Sind sich beide Bücher ähnlich? Gewiss. Aber ein Plagiat? Das erscheint uns doch ein wenig weit hergeholt zu sein. Aber das soll jeder selbst beurteilen.

Und Neumann? Der distanzierte sich 1966 im Nachwort einer Neuauflage von Karriere von dem Vorwurf. Mehr noch: Er verstieg sich sogar zu der Aussage, er habe dergleichen nie behauptet. Das ist nachweislich falsch. Aber so war Neumann eben.


Tucholskys Text 1:
 ›Auf dem Nachttisch‹, Autorenname: Peter Panter, Die Weltbühne 28/1932, S. 177 bis 180; Tucholskys Text 2:
 [›Das kunstseidene Mädchen‹], Autorenname: Kurt Tucholsky, Gewerkschafts-Archiv, Juli 1932, S. 37 bis 38