Brief an Thomas Mann

Vorbemerkung: Von wann dieser Brief stammt, ist unbekannt. Sicher ist nur, dass er, da der Verfasser gerade den Zauberberg liest, nach 1924 geschrieben worden sein muss. Welches Bild der Autor meint, ist ebenfalls ungewiss. Fotografien, auf denen Mann in der unten beschriebenen Weise zu sehen ist, gibt es aber mehr als genug. 


Sehr geehrter Herr Mann,

gewiss, Sie sind ein viel beschäftigter Mann, der ganz etwas anderes zu tun hat, als die täglich auf Sie einströmenden Bitten und Anfragen zu lesen, sie zu beantworten gar. Dass ich es dennoch wage, Sie mit diesem kleinen Briefchen zu belästigen, hat folgenden Grund: Neulich erst habe ich nämlich ein Bild von Ihnen gesehen – ein Bild allerdings, das mir gar nicht gefallen hat. Sie gucken dort so furchtbar hocharistokratisch drein, dass ich schon glaubte, Sie seien mit einer Königlichen Hoheit verwandt. Sind Sie das etwa?

Auf jeden Fall sollten Sie an Ihrer Haltung arbeiten. Das muss doch wehtun, so hölzern wie Sie da in der Gegend herumstehen, ganz starr und steif, und die Arme strack an der Seite herunterhängen lassen. Das kann nicht sehr überzeugend auf Ihre Leserinnen wirken, fürchte ich. Und ein kleines Lächeln stünde Ihnen wohl auch ganz gut. Dann wären Sie nun wirklich nicht mehr der Muffbeutel, als der Sie sonst immer so rüberkommen.

Ich lese gerade Ihren Roman Der Zauberberg. Darf ich Ihnen verraten, was ich davon halte? Ganz im Vertrauen, unter uns gesagt quasi: Ich finde, Sie hätten spätestens nach dem zweiten Kapitel damit aufhören sollen. Danach geht es nur noch bergab. Die Schuld liegt natürlich bei mir, doch kann es denn normal sein, wenn ich ewig lange brauche, um das Werk auszulesen? Ich dachte, ich wäre in drei Wochen durch, doch jetzt sitze ich schon fast sieben Jahre daran – und bin noch immer nicht fertig. Ja, Herrschaftszeiten, kann das denn angehen? Nein. Und französisch, nebenbei gesagt, kann ich halt auch nicht.

Dans l’attente d’une réponse de votre part, veuillez agréer, Monsieur, mes salutations distinguées.

Unterschrift

PS: Wie geht es der werten Frau Gattin? Hat Sie immer noch die Hosen an?