Als Emily Brontë am 19. Dezember 1848 im Alter von nur 30 Jahren starb, war sie nahezu unbekannt. Ihr Roman und ihre Gedichte ließen die frühen Kritiker zumeist ratlos zurück, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Emily Brontë war ihrer Zeit weit voraus, erst spätere Generationen wussten ihr Genie zu würdigen.
In her white evening dress; with her long hair flowing full and wavy; with her noiseless step, her pale cheek, her eye full of night and lightning, she looked, I thought, spirit-like, – a thing made of an element, – the child of a breeze and a flame, – the daughter of ray and rain-drop, – a thing never to be overtaken, arrested, fixed.
[Charlotte Brontë: Shirley 1849, Vol. III: Chapter XXXVI, S. 294]
Als so etwas wie einen Geist hat ihre Schwester sie also gesehen, als Kind von Wind und Feuer, wie aus einem Element entstanden, so wie sie dastand in ihrem weißen Abendkleid, mit ihren langen Locken, dem lautlosen Schritt, den bleichen Wangen und den blitzenden Augen, die so schwarz wie die Nacht, eine Tochter des Lichts und des Regentropfens, ein Wesen, das keiner kann fassen, einfangen oder fesseln.
Ein seltenes Gemisch war sie in der Tat, ein seltsames wohl auch. Ist es denn nicht seltsam, was wir über jenen Herbstabend erfahren, da Emilys geliebte braungelbe Riesen-Bulldogge Keeper wieder einmal die besten Betten des Hauses als Schlafgemach benutzt hatte? Ist es wirklich vernünftig, nach oben zu gehen, das Riesentier am Nacken zu packen, es die Treppe hinunter hinter sich her zu zerren, um schließlich in einer dunklen Ecke halt zu machen und das Tier mit der bloßen Faust so lange zu züchtigen, bis seine Augen zugeschwollen sind? Macht man so etwas mit einem Tier, das durchaus dafür bekannt war, jemanden an die Kehle zu springen?
Aber Emily hat wohl recht daran getan, ihn so ordentlich durchzutrimmen, denn das Tier muss von Stund an wohl so etwas wie Emilys bester Kumpel gewesen sein. Er habe sie innig geliebt seitdem, sagt Charlottes Biografin Elizabeth Gaskell, und sei bei ihrem Begräbnis der Erste im Trauerzug gewesen; nächtelang habe er dann wie ein Trauerkloß vor der Tür ihres leeren Zimmers gelegen und sei auch danach nie mehr der Alte gewesen.
Ein brüllender Stier
Aber das sind eben die Szenen, in denen in diesem seltensten Gemisch der brüllende Stier zum Vorschein tritt, der uns in Charlottes Jugendwerk The Foundling (1833) begegnet. Jetzt können wir uns besser vorstellen, wie es wohl gewesen sein könnte, als sie ›schwerbesoffen rollte rum mit ’nem Schrei wie völlig dumm‹, wie es in dortigem Gedicht im schweren Yorkshire-Dialekt heißt:
Eamala is a great bellaring bull
Shoo swilled and swilled till shoo drank her full;
Then shoo rolled abaat
Wi’ a screaam an’ shaat
And aat of her pocket a knoife did pull.An’ wit that knife shood’ a cutt her thoit
If I handn’t gean her a strait waist-coit.
Ob sie tatsächlich mit Messern herumfuhrwerkte und zum eigenen Schutz in einen Mantel gewickelt werden musste – wer weiß? Heftige Wutanfälle waren ja, wenn auch nicht an der Tagesordnung, so doch immerhin öfter bei ihr zu beobachten.
Und das alles erfahren wir über eine, die als kleines Kind wohl noch ganz anders gewesen sein muss. Denn wie anders ist zu erklären, dass sich im Schulregister von Cowan Bridge das Lob für sie findet, sie lese sehr nett und handarbeite auch ein wenig, ein Lob, das sonst keiner anderen Schülerin zugesprochen wurde; und auch, dass die Schulleiterin die 6-jährige Emily als liebes Kind und kleine geliebte Em bezeichnet hat, kommt sicher nicht von ungefähr.
Auch später noch konnte sie, wie Charlottes Freundin Ellen Nussey 1833 anmerkt, wie ein kleines Kind mit den Kaulquappen im Wasser spielen. Aber dies vielleicht auch deshalb, weil sie, die sie im Hause ganz zurückhaltend war, ihre Befangenheit erst dann verlor, sobald sie im Moor war.
Erstaunlich nur, dass nach Nusseys Urteil ihrem Teint trotz der vielen Moorspaziergänge wohl ständig die nötige Frische fehlte. Ganz anders dagegen müssen ihre Augen gewesen sein. Nussey beschreibt sie nicht nur als wunderschön, leuchtend und klar, sondern auch als derart geheimnisvoll, dass sie manchmal grau, manchmal dunkelblau ausgesehen haben sollen.
Mit Pistole und Brenneisen
Geleuchtet haben ihre Augen vielleicht auch dann, als ihr Vater begann, ihr das Pistolenschießen beizubringen. Sie übte immer im Garten, traf wohl meist das Schwarze und wartete anschließend auf das Lob des Vaters, das ihr sehr am Herzen gelegen haben muss. Warum auch nicht, war ihr Vater doch einer der wenigen, zu denen Emily eine wahrhaft menschliche Beziehung hatte. Angeblich verhielt sie sich aber auch Kindern gegenüber nicht ganz gleichgültig. So soll sie immer dann, wenn die köperbehinderte Kusine ihres Hausmädchens zu Besuch kam, ihren eigenen Stuhl in die Küche getragen haben.
Das müssen allerdings bemerkenswerte Ausnahmen gewesen sein. Sonst hielt sie es wohl mehr mit Tieren, denen sie ihre ganze Liebe schenkte. Und das, obwohl ihre Liebe zu den Tieren mitunter nicht ganz ungefährlich war, wie wir bereits gesehen haben.
Noch gefährlicher als der Zwischenfall mit Keeper war wahrscheinlich ein Zusammentreffen mit einem anderen Hund: Als dieser eines Tages mit heraushängender Zunge und gesenktem Kopfe an ihr vorbeilief, rief sie das fremde Tier zu sich, um ihm etwas Wasser zu geben. Doch was machte der Hund? Er war ganz verstört und schnappte nach ihr. Was aber tun, wenn man von einem möglicherweise tollen Hund gebissen wird? Nun, Emily ging in die Küche, nahm ein Brenneisen und brannte damit die Wunde aus – so, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.
(Wer sich für die literarische Verwertung der Hunde-Episoden interessiert, sollte sich Charlottes Roman Shirley besorgen.)
Das erste Tagebuchblatt
Viel wissen wir nicht über Emilys Leben. Zum Glück existiert zumindest eine Quelle, die uns ein ganz klein wenig mit dem Tagesablauf im Hause Brontë bekannt macht: die vier Tagebuchblätter, die Emily und ihre Schwester Anne im Laufe der Jahre verfasst haben.
Was erfahren wir da nun? Der erste Erguss unseres Groß-Genius oder unserer Titanide, wie Arno Schmidt Emily später einmal nennen wird, stammt vom 24. November 1834. Emily hat am Morgen ihre Tiere gefüttert, Rainbow, Diamond, Snowflake, Tauben wohl, was aber nicht ganz klar ist; auch Jasper, den Fasan, hat sie nicht vergessen.
Wir erfahren dann, dass Sir Robert Peel für Leeds kandidieren soll. Klar ist auch, dass sie in der Küche Äpfel geschält haben, damit Charlotte einen Apfelpudding machen kann. Während nun Tabby, die Haushaltshilfe, Anne auffordert, die Kartoffeln zu pellen, kommt gerade die Tante in die Küche und fragt Anne, wo sie denn wohl ihre Füße habe, worauf Anne antwortet, dass sie auf dem Boden seien. Dann kommt auch noch der Vater, gibt Branwell einen Brief, auf dass er ihn lese und seiner Tante sowohl als auch Charlotte zeige. Derweil ist Sally Mosley in der hinteren Küche mit dem Abwasch beschäftigt.
Es ist nun kurz nach 12 Uhr mittags, Anne und Emily haben ihren faulen Tag, weder haben sie sich zurechtgemacht noch haben sie ihre Betten oder ihre Aufgaben gemacht; sie wollen nur nach draußen gehen und spielen. Dann das Programm fürs Dinner: Es gibt gekochtes Rindfleisch, weiße Rüben, Kartoffeln und Apfelpudding. Und das, obwohl die Küche in einem sehr unordentlichen Zustand ist. Jetzt wieder zurück im Gedankengang: Auch ihre Musikaufgaben, die in B-Dur, haben sie noch nicht gemacht; und als Emily der armen Tabby mit der Schreibfeder im Gesicht herumfährt, ruft diese aus, warum sie denn so sinnlos vor sich hin murkse, nicht aber die Kartoffeln pelle? Darauf Emily: Oje, oje, oje, ich mach es gleich. Dann endlich steht sie auf, nimmt ein Messer und beginnt mit dem Pellen. Ihr Vater geht aus, sie aber warten auf einen Herrn Sunderland.
Schließlich wundern sie sich noch darüber, was wohl mit ihnen sein wird im Jahre 1874, dann also, wenn sie in ihrem 57sten (Emily), 55sten (Anne), 58sten (Branwell) und 59sten Lebensjahre (Charlotte) stehen werden – immer darauf hoffend, dass es ihnen gut gehen werde. Damit beenden sie ihr Papier. Zwischendurch teilen uns die beiden auch noch mit, dass die Gondalianer, von denen wir später noch mehr hören werden, das Innere von Gaaldine entdecken.
Das zweite Tagebuchblatt
An Branwells 20. Geburtstag, dem 26. Juni 1837, entsteht das zweite bekannte Tagebuchblatt. Es ist ein schöner, kühler, sonniger Tag mit dünnen grauen Wolken. Der Vater ist wieder ausgegangen, Tabby ist in der Küche, Charlotte, von Emily einmal Charolotte, einmal Charollote genannt, arbeitet im Zimmer der Tante, Branwell liest ihr Eugene Aram vor.
Alle sind gut beieinander und Emily hofft, dass dies auch in vier Jahren so sein wird. Ob sie, wie Emily glaubt, gemütlich im Wohnzimmer zusammensitzen, oder doch eher, wie Anne meint, irgendwo anders beisammen sein werden? Auf jeden Fall hoffen sie das Beste.
Auch Gondal wird wieder erwähnt. Die Herrscher sind im Begriff, von Gondal nach Gaaldine abzureisen, um sich auf die Krönung vom 12. Juli vorzubereiten. Warum? Weil zur selben Zeit Königin Viktoria von England den Thron bestiegen hat. Anne und Emily stricken auch fleißig weiter an ihrem Traumreich: Anne ist mit ihrem Gedicht Alexander And Zenobia beschäftigt, Emily mit Augusta Almedas Leben.
Das dritte Tagebuchblatt
Das dritte Blatt ist an Emils 23. Geburtstag entstanden, dem 30. Juli 1841. Es ist kurz vor 21 Uhr am Abend, das Wetter ist wild und regnerisch. Emily sitzt alleine im Esszimmer und schreibt ihr Blatt, nachdem sie zuvor noch die Schreibpulte aufgeräumt hat. Der Vater ist im Wohnzimmer, die Tante, die dem Vater aus der Zeitschrift Blackwood’s vorgelesen hat, auf ihrem Zimmer. Dann zu den Tieren: Victoria und Adelaide sind im Torfschuppen, Keeper in der Küche, Hero (ein Falke) in seinem Käfig. Alle im Hause sind gesund und munter, was Emily auch von den anderen hofft: von Charlotte, die bei John White in Rawden weilt; von Branwell, der in Luddenden Foot ist; und von Anne, die, wie Emily glaubt, in Scarborough ist und dort eventuell ähnliche Zeilen schreibt wie sie selbst.
Nun erwähnt Emily kurz den Plan, eine eigene Schule zu gründen. Noch ist zwar nichts entschieden, aber sie hofft, dass sich alle Erwartungen erfüllen. Deshalb wohl ist sie auch gespannt darauf, was in vier Jahren sein wird. Werden sie sich weiter so abmühen müssen wie bisher, oder werden sie zu ihrer Zufriedenheit versorgt sein?
Emily blickt positiv in die Zukunft. Sie stellt sich vor, dass sie (Charlotte, Anne und sie selbst) in vier Jahren fröhlich in ihrem eigenen Zimmer einer hübschen erfolgreichen Schule sitzen, nachdem sie gerade alle zusammengetroffen sind, um die Sommerferien zusammen zu verbringen. Zusammen, also auch mit dem Vater, der Tante und Branwell.
Auch die Schulden sind in Emilys Vorstellung bezahlt, eine Menge Bargeld ist vorhanden. Der schöne Sommerabend ist auch viel schöner als der trübe Tag von heute. Außerdem stehen Emily viele Bücher zur Verfügung, wie gewöhnlich aber kommt sie mit keinem so recht voran. Aber sie hat vor, wirklich und wahrhaftig Großes zu vollbringen.
Zum Abschluss ruft sie noch der weit entfernten Anne Mut zu. Zwischendurch erfahren wir auch wieder etwas über Gondal. Die Gondalianer sind in einer furchtbaren Lage, der offene Bruch konnte bisher aber vermieden werden, alle Prinzen und Prinzessinnen der Königlichen Familie befinden sich im Palast der Unterweisung.
Das vierte Tagebuchblatt
Das vierte Blatt stammt vom 31. Juli 1845. Anne und Emily haben erstmals alleine eine gemeinsame Reise unternommen. Sie verlassen Haworth am 30. Juni, schlafen in York, kehren am Dienstagabend nach Keighley zurück, übernachten dort und wandern dann am Mittwochmorgen nach Hause. Obwohl das Wetter unbeständig ist, haben sie anscheinend viel Spaß; nur in Bradford gefällt es ihnen nicht.
Der Plan mit der Schule wurde im vergangenen Sommer wieder mit großem Nachdruck vorangetrieben. Sie hatten gedruckte Prospekte, schickten Briefe an alle Bekannten, doch die Sache ging nicht voran. Jetzt hat keiner mehr Verlangen nach der Schule, Emily schon gleich gar nicht. Geld ist offensichtlich in ausreichendem Maße vorhanden. Alle sind ganz gesund, nur der Vater hat Probleme mit den Augen. Auch Branwell geht es nicht ganz so gut, aber Emily hofft, dass es bald wieder mit ihm aufwärts gehen wird. Mit sich selbst ist sie ganz zufrieden, denn anscheinend ist sie nicht mehr ganz so träge wie früher. Sie sehnt sich nach der Zukunft, selten oder nie ist ihr langweilig. Wenn nur alle so zufrieden wären wie sie.
Tabby hat Emily wie früher geneckt und gesagt, Emily solle lieber Kartoffeln pellen. Wäre schönes Wetter, hätten Anne und Emily schwarze Johannisbeeren gepflückt. Jetzt muss Emily die Wäsche zusammenlegen und bügeln. Sie hat eine Menge zu tun und schließt mit den besten Wünschen bis zum 30. Juli – oder vielleicht für viel länger.
Und auch wieder etwas von den Gondalianern: Im Laufe ihres Ausflugs waren Anne und Emily nämlich Ronald Macelgin, Henry Angora, Juliet Augusteena, Rosobelle Esraldan, Ella und Julian Egramont, Catherine Navarre und Cordelia Fitzaphnold, die aus den Palästen der Unterweisung fliehen, um sich den Royalisten anzuschließen, die von den Republikanern hart bedrängt werden. Aber die Gondalianer sind in schönster Blüte. Emily schreibt an einem Werk über den ersten Krieg, Anne hat einige Artikel darüber verfasst und überdies auch ein Buch von Henry Sophona. Und solange sie Spaß dran haben werden, wollen sie den Schurken treu bleiben.
Angria und Gondal
Was hat es mit Gondal genau auf sich? Begonnen hat alles am 5. Juni 1826, als der Vater von einer Reise nach Leeds nach Hause gekommen ist und Branwell als Geburtstagsgeschenk eine Schachtel mit zwölf Holzsoldaten mitgebracht hat. Nachdem Branwell sie zur Tür des Mädchenzimmers getragen hatte, waren Emily und Charlotte sofort Feuer und Flamme: Charlotte und Emily schnappten sich jeweils eine Figur, genauso wie Anne, nachdem sie aus ihrem Zimmer heruntergekommen war.
Wie geht es nun mit den zwölf Holzsoldaten weiter? Die Zwölf gehen auf große Fahrt, landen nach einigen Abenteuern schließlich im Königreich Ashantee an der Küste Afrikas, wo sie sich wie typische Kolonialherren benehmen und bald die Einheimischen niedermachen. In Ashantee entstehen vier Staaten: Wellingstonland, Sneakysland, Parrysland und Rossesland. Die größte Stadt ist Great Glasstown, später Verdopolis genannt, die mit einem ungeheuren Turm der Nationen glänzt. Die Schutzpolizei wird repräsentiert von vier Großschutzgeistern, von Branii, Tallii, Emmii und Annii.
Viel wissen wir nicht über Gondal, aber zum Glück gibt es ja das Buch A Grammar of General Geography von Reverend J. Goldsmith (ein Pseudonym des englischen Lehrers und Verlegers Sir Richard Phillips). Emily hat nämlich in ihre Ausgabe ein paar Daten hineingeschrieben, die uns bei der Rekonstruktion etwas weiterhelfen.
Gondal ist eine große Insel im Nordpazifik, die Hauptstadt heißt Regina. Dann gibt es noch Gaaldine, eine kürzlich erst entdeckte Insel im Südpazifik, bestehend aus den Königreichen Alexandra, Almedore, Elseraden, Zelona und Ula sowie der Provinz Zedora, die von einem Vizekönig regiert wird.
Das Klima auf Gondal ist ganz unterschiedlich. Ungemütlich im Norden mit seinen Mooren und schneebedeckten Bergen, angenehm im dicht bewaldeten Süden. Im Königreich Gondal, das von Augusta Geraldine Almeda regiert wird, herrscht eine recht solide Rivalität zwischen den Häusern Brenzaida und Exina.
Als nun Gaaldine entdeckt wird, sind es die Vertreter dieser beiden Häuser, die die Insel besetzen: Die Gondals würden das Innere von Gaaldine erforschen, hat Emily ja in ihr Tagebuchblatt vom 24. November 1834 geschrieben. Da geht es nun aber los, zwischen Julius Brenzaida, dem König von Almedore, und den Exinas in Zalona kommt es zum Krieg.
Noch ein paar Charaktere seien erwähnt, die wir einer Liste Emilys vom 21. August 1839 verdanken. Ronald Stwart (Stewart) ist 28 Jahre alt, hat braune Haare, graue Augen, eine englische Nase und einen hellen rosigen Teint. Er ist etwa 1,80 Meter groß, seine Frau Regina etwa zehn Zentimeter kleiner. Sie ist 24 Jahre alt, hat dunkelbraunes Haar, graue Augen, eine griechische Nase und einen hellen Teint. Der 21-jährige Marcellus lebt offensichtlich auf einer Burg; er ist 1,81 Meter groß, hat hellbraunes Haar, graue Augen, eine römische Nase, helle Haut und ist verheiratet mit der jungen Flora, die erst 17 Lenze zählt und 1,68 Meter groß ist.
Vieles ist zwar Spekulation, dennoch können wir ein ganz klein wenig über die Geschichte Gondals aus Emilys Gedichten erfahren. Folgen wir deshalb Fannie Ratchford bei ihrem Versuch, die Ereignisse von Gondal zu ordnen: Augusta Geraldine Almeda wird unter dem Planeten Venus geboren; sie lernt Alexander, den Lord von Elbë, kennen und lieben, verliert ihn aber an der Küste des Elnorsees in Gondal. Kurz danach wird sie gefangen genommen und in einen Kerker geworfen. Kurz darauf wird sie aber wieder entlassen und darf sich nun ihres Lebens freuen. Sie heiratet Lord Alfred, verlässt ihn aber für Julius Brenzaida, worauf Lord Alfred sich umbringt.
Julius ist nun mit einer Rebellion des Hauses Exina beschäftigt. Er marschiert los, um die Aufständischen niederzumachen, wird auf dem Feldzug jedoch ermordet. Augusta flüchtet gemeinsam mit ihrer neugeborenen Tochter, das Kind stirbt aber auf der Flucht. Sie erobert den Thron zurück, ist aber einsam und unglücklich.
Eine weitere Episode ihres Lebens dreht sich um einen Fernando de Samara, den sie verlässt und in den Kerker werfen lässt, woraufhin sich der Jüngling das Leben nimmt. Schließlich wird Augusta auf der Heide von Elmor Opfer einer alten Blutrache. Ihr Mörder flieht in die Berge und tötet seine Verfolger durch eine Felslawine.
Wie Anne am 31. Juli 1845 schreibt, ist Emily dabei, das Leben von König Julius aufzuschreiben. Die Gondals sind derweil in einer traurigen Lage; die Republikaner sind obenauf, doch die Königlichen sind nicht ganz besiegt – und die jungen Monarchen sind mit ihren Brüdern und Schwestern noch im Palast der Unterweisung.
Und davon zwei Stück verkauft
Nun wäre davon vielleicht nie etwas bekannt geworden, hätte nicht Charlotte im Herbst 1845 Emilys Gedichte gefunden. Sie entschloss sich nämlich, Emilys Verse zusammen mit ihren eigenen und denen von Anne zu veröffentlichen. Und sie fand tatsächlich einen Verleger. Ob Aylott and Jones mit dieser Entscheidung letztlich glücklich geworden sind, steht zu bezweifeln, da von den Poems, by Currer, Ellis and Acton Bell ganze zwei Exemplare veräußert wurden.
Emily aber dürfte das alles sicherlich herzlich wenig gekratzt haben, denn wenn es eines gab, was ihr zuwider war, dann war dies das öffentliche Interesse an ihrer Person. Dann aber kam das Brontë-Wunderjahr 1847: Charlottes Jane Eyre wurde genauso veröffentlicht wie Annes Agnes Grey und Emilys Wuthering Heights.
Nun heißt es zwar oft, Emilys Geniestreich sei von der Kritik verrissen worden, doch stimmt das nicht ganz. Die fünf Rezensionen, die Emily in ihrem Schreibpult aufbewahrt hat, verweisen zwar allesamt auf Mängel, sparen aber samt und sonders auch nicht mit lobenden Worten. Sie hätte sich also bestätigt fühlen müssen, nur leider hat sie wohl nie mehr so richtig zur Feder gegriffen.
Nur einmal noch hat sie sich an ihren Tisch gesetzt. Im Mai 1848 überarbeitete sie 25 Zeilen des Gedichts Why ask to know what date, what clime? Der Brontë-Experte Edward Chitham vermutet, dass sie an einem zweiten Roman gearbeitet haben könnte, beweisen lässt sich das freilich nicht mehr.
Emily hatte ohnehin ganz andere Sorgen. Nach dem Tod ihres Bruders Branwell am 24. September 1848 ging es auch ihr zusehends schlechter. Sie verweigerte jegliche ärztliche Hilfe, bis sie am 19. Dezember 1848 an der Schwindsucht starb.
Für diesen Text wurden folgende Quellen benutzt: (1) Juliet Barker: The Brontës (London: Phoenix Press 2001), darin besonders: ›kleine geliebte Em‹ (S. 134); Kaulquappen im Wasser (S. 196); Augen (S. 194); Tagebuchblatt (S. 220 f.); Holzsoldaten (S. 154 f.); (2) Elizabeth Gaskell: Das Leben der Charlotte Brontë (München: dtv 1997), darin: Keeper (S. 233); Wunde ausgebrannt (S. 249); (3) Edward Chitham: A Brontë Family Chronology (Basingstoke: Palgrave Macmillan 2003), darin: Befangenheit im Moor verloren (S. 106); Pistolenschießen (S. 215); körperbehinderte Kusine (S. 232); Gondal-Chraktere (S. 175); (4) Edward Chitham: Emily Brontë (Göttingen: Steidl 1993), darin besonders: zweiter Roman (S. 303 ff.); (5) C.W. Hatfield (Hg.): The Complete Poems of Emily Jane Brontë (New York: Columbia University Press 1995), darin: Ereignisse von Gondal (S. 14 ff.); (6) Arno Schmidt: Dialoge 2 (Zürich: Haffmans 1990), darin: Titanide (S. 410/429).