Von Goethe – oder nicht?

Johann Wolfgang Goethe hat ein umfangreiches Werk hinterlassen. Der bekannte Kanon ist in der Tat gewaltig. Könnte er aber nicht sogar noch größer sein? Zugeschrieben werden ihm jedenfalls noch viele weitere Texte. Doch stammen sie wirklich von Goethe?


Goethe hat enorm viel geschrieben, so viel ist klar. Doch nicht alles, was mit seinem Namen gezeichnet ist, ist auch tatsächlich seiner Feder entflossen. Als Beispiel sei nur jener berühmte Aufsatz genannt, der sich mit der rechtlichen Stellung des Flohs in der Gesellschaft befasste. Schon im Vorwort der Juristischen Abhandlung über die Flöhe, deren erste Auflage im Jahre 1839 in Berlin erscheinen ist (also sieben Jahre nach des Dichters Tod), wird auf Goethe verwiesen:

Es ist nicht unbekannt, daß Goethe in den verschiedenen Zeiten seines Aufenthalts zu Leipzig, Straßburg und Wetzlar mehrere juristische Abhandlungen schrieb, von denen jedoch keine unter seinem Namen erschienen ist. Dahin gehört auch nachfolgendes, die rechtlichen Verhältnisse der Flöhe betreffendes Werkchen, dessen Entstehung wahrscheinlich in die Zeit, wo sich Goethe zu Straßburg aufhielt, fällt.

[Ausgabe von 1864: Vorwort, S. iii]

Wenn man sich den Text näher anschaut, könnte man tatsächlich fast meinen, er sei von Goethe verfasst worden. Werfen wir nur einmal einen Blick auf den sechsten Paragrafen, allwo wir erfahren dass ›der Floh einer adeligen Dame auch dem vornehmen Stande angehöre, worüber ›gar kein Zweifel obwalten‹ könne:

Denn gleichwie adelige Damen den Bürgerfrauen im Range weit voranstehen, also gebührt auch ihren Flöhen eine größere Achtung, welche billig den Flöhen der bürgerlichen Frauen verweigert wird. Die Nebensache folgt der Hauptsache; es ist deßhalb der Floh einer adeligen Dame auch wirklich selbst adelig, und genießt um deßwillen der Privilegien, Vorrechte und Freiheiten des Adels.

[Ausgabe von 1864: §6, S. 15]

Zitiert sei auch noch jenes Kleinod, das uns über die Rechte des schwangeren Flohs aufklärt:

Sempronia fing einen augenscheinlich schwangeren Floh. Kann das Thierchen mit einer Leibesstrafe belegt werden? Ich sage nein! und noch einmal nein! weil die Strafabbüßung der Mutter nicht der Leibesfrucht nachtheilig fallen darf. Ja man darf einen solchen Floh nicht einmal aus dem Fenster werfen, am allerwenigsten aber zur Winterszeit.

[Ausgabe von 1864: §14, S. 31]

Wenn das nicht Goethe pur ist, was dann? Aber ach, alles nicht wahr, für die auf Latein und Deutsch erschienene Broschüre zeichnete er leider nicht verantwortlich. Wie wir inzwischen nämlich wissen, ist der Text in ganz ähnlicher Form schon 1683 von dem Marburger Rechtsprofessor Otto Philipp Zaunschliffer (1653 bis 1729) unter dem Titel De publicus erstmals veröffentlicht worden. Aber vielleicht war Goethe ja auch nur ein geschickter Plagiator – wer kann das schon mit Gewissheit sagen?

Goethe zugeschrieben werden natürlich auch viele andere Texte, so die folgenden Gedichte, die von werweißwem ersonnen worden sind. Zunächst einmal wollen wir uns ein Lied von der Wirtin anschauen:

Frau Wirtin hatte auch ein Kind,
das hatte einen krummen Pint.
Man wollt ihn biegen grade,
doch als er grade gerade war,
da brach er ab – was schade war.

Noch ein zweites Gedicht soll Goethe zum berühmten Wirtinnenzyklus beigesteuert haben. Und zwar dieses hier:

Es steht ein Wirtshaus an der Lahn
Mit einer Wirtin wundersam –
Greift die zu ihrer Leier,
So sitzen alle Gäste da
Und greifen sich die Eier.

Berühmt geworden ist auch der folgende Spruch, der in dieser oder leicht abgewandelter Form vor allem im Netz kursiert (und häufig genug Heinrich Heine zugeschrieben wird, der ja tatsächlich recht steif in seiner Matratzengruft liegen musste):

Gerne der Zeiten gedenk’ ich, da alle Glieder gelenkig – bis auf eins.
Doch die Zeiten sind vorüber, steif geworden alle Glieder – bis auf eins.

Eine nette Geschichte dreht sich um eine Wette, die Goethe eingegangen sein soll. In einer Kneipe um ein Stegreifgedicht mit zwei vorgegebenen Stichworten (Haustürglocke und Mädchenbusen) gebeten, soll er sich kurz besonnen haben, ehe er bald schon seine Lösung kundtat:

Der Mädchenbusen in der Hand,
Die Haustürglocke an der Wand,
Zwei Dinge sind’s die nah verwandt.
Denn wenn man leise sie berührt,
Man oben, innen deutlich spürt,
Dass unten, draußen einer steht,
Der sehnsuchtsvoll um Einlass fleht.

Erwähnt werden soll in diesem Zusammenhang auch jener Zweizeiler, den Goethe angeblich unter die Verse Schillerns gesetzt hat. Bei einem Besuch im Hause seines Freundes hatte Goethe demnach den folgenden Gedichtanfang entdeckt:

Er saß an ihres Bettes Rand
und spielte mit den Flechten.

Und hatte, ohne dass Schiller es merkte, das Gedicht um zwei weitere Verse erweitert:

Das tat er mit der linken Hand.
Was tat er mit der rechten?

An dieser Stelle soll auch Schillern selbst gedacht werden. Als dieser in Stuttgart einmal einen Schulkameraden aufsuchen wollte, musste er feststellen, dass sein Freund gerade nicht zugegen war. Allerdings sah er auf dem Schreibtisch ein angefangenes Gedicht liegen, dessen erste Verse wie folgt lauteten:

Es dringt der Sonne Strahlenspitzen
Bis auf des Meeres tiefsten Grund.

Woraufhin Schiller zwei Verse zugefügt haben soll:

Die Fische fangen an zu schwitzen.
O Sonne, treib es nicht zu bunt.

Zurück aber zu Goethe, von dem wir einen Text kennen, der erwiesenermaßen von ihm selbst stammt:

Ein junger Mensch, ich weiß nicht, wie
Starb einst an der Hypochondrie
Und ward denn auch begraben.
Da kam ein schöner Geist herbei,
Der hatte seinen Stuhlgang frei,
Wie’s denn so Leute haben.
Der setzt’ notdürftig sich aufs Grab,
Und legte da sein Häuflein ab,
Beschaute freundlich seinen Dreck,
Ging wohleratmet wieder weg
Und sprach zu sich bedächtiglich:
›Der gute Mensch, wie hat er sich verdorben!
Hätt er geschissen so wie ich,
Er wäre nicht gestorben!‹

[Goethe: Gedichte 1949, S. 1137]

Das kleine Spottgedicht, von Goethe selbst ›Nicolai auf Werthers Grabe‹ genannt, macht deutlich, dass Goethe durchaus recht biestig sein konnte. Adressat war der Buchhändler Friedrich Nicolai (1733 bis 1811), dessen Werther-Parodie Freuden des jungen Werthers dem empfindlichen Goethe schwer im Magen lag.

Er versuchte sogar, seine Zeilen im Musen-Almanach unterzubringen – was ihm aber nicht gelang. So musste er sich mit Mund-zu-Mund-Propaganda begnügen, auf dass sich das Gedicht verbreiten und auch gedruckt werden möge. Tatsächlich wurde es immer mal wieder in diversen Druckwerken des 19. Jahrhunderts publiziert.