Charles Dickens weint um einen Engel

Charles Dickens war mit einer Frau verheiratet, die ihm zehn Kinder schenkte. Geliebt hat er aber eine andere, die früh verstorbene Schwester seiner Gattin.


Als Mary Hogarth im Alter von nur 17 Jahren starb, genügten Charles Dickens drei Worte, um seine Schwägerin zu beschreiben: jung, schön, gütig (young, beautiful and good). Es sind quasi Worte für die Ewigkeit, denn noch heute zieren sie Marys Grabstein auf dem Friedhof von Kensal Green in London.

Wie viel ihm seine Schwägerin bedeutete, wird deutlich, wenn wir daran denken, dass Dickens genau diese Worte auch verwendete, um gleich drei seiner Frauenfiguren zu beschreiben: Rose Maylie aus Oliver Twist, Little Nell aus dem Raritätenladen und Florence Dombey aus Dombey und Sohn.

Wer also war diese Mary Hogarth, die Dickens offenbar so sehr am Herzen gelegen hat? Beginnen wir bei ihrem Vater: George Hogarth, der Herausgeber des Evening Chronicle, hatte neun Kinder, deren ältestes eine Tochter namens Catherine war. Mit eben dieser Catherine vermählte sich Dickens am 2. April 1836.

Ob die Ehe aber so glücklich war? Dass Dickens seine Angetraute gerne als so etwas wie eine Megäre oder einen Hausdrachen verteufelte, spricht nicht unbedingt dafür. Aber er brauchte sie ja auch nur dafür, dass ihm Kinder geboren wurden.

Nun, diese Aufgabe erfüllte sie durchaus. Zehn Kinder nämlich, sieben Jungs und drei Mädchen erblickten das Licht der Welt: Charles Culliford Boz, Mary, Kate Macready, Walter Savage Landor, Francis Jeffrey, Alfred D’Orsay Tennyson, Sydney Smith Haldimand, Henry Fielding, Dora Annie und Edward Bulwer Lytton.

Die eine Schwester, Catherine, brachte die Kinder zur Welt, die andere Schwester, Mary, sollte ihm so etwas wie eine intellektuelle Partnerin sein. Fein hatte er sich das ja ausgedacht, doch zu seinem Leidwesen hielt die Dreierbeziehung nicht lange vor. Nur ein knappes Jahr nachdem sie bei Charles und Catherine eingezogen war, fühlte die junge Mary sich nicht mehr wohl, lag einige Tage krank danieder, bevor sie am 7. Mai 1837 starb.

Dickens war darüber so in Trauer, dass er die Pickwickier und Oliver Twist, an denen er gerade arbeitete, nicht rechtzeitig abschließen konnte. Wahrscheinlich war er zu sehr damit beschäftigt, den Ring zu bestaunen, den er der Toten vom Finger gezogen hatte und den er von Stund an selbst trug.

Aber nicht nur das: Darüber hinaus hob er noch eine Haarlocke von Mary sowie ihre Kleider auf. Sein Biograf Peter Ackroyd geht sogar davon aus, dass er unter dem größten Verlust und Schmerz litt, den er je in seinem Leben erfahren sollte (→ Ackroyd 1996, S. 238).

Wie er sich nach Marys Tod fühlte, kann vielleicht einer Passage in Oliver Twist entnommen werden. Nachdem Rose Maylies Zustand sich verschlechtert hatte, überlief ja immer dann ein Zittern seinen Körper, trat ihm immer dann der kalte Angstschweiß auf die Stirn, wenn er fürchten musste, dass etwas geschehen sei, was zu schrecklich war, um auch nur daran zu denken:

How often did a tremble shake his frame, and cold drops of terror start upon his brow, when a sudden trampling of feet caused him to fear that something too dreadful to think of had even then occurred!

[Erstausgabe, Vol. II: Chapter 32, S. 235]

Noch schlimmer empfand er wohl nur die Ungewissheit, unnütz an der Seite zu stehen, wenn ein innig geliebter Mensch mit dem Tode kämpft; schrecklich auch die quälenden Gedanken, die das Herz wie wild schlagen, den Atem stocken lassen; nicht besser das verzweifelte Bemühen, etwas zu tun, um den Schmerz zu lindern, die Gefahr zu verringern. Ob es wohl vergleichbare Qualen geben mag?

The suspense, the fearful acute suspense, of standing idly by while the life of one we dearly love is trembling in the balance – the racking thoughts that crowd upon the mind, and make the heart beat violently, and the breath come thick, by the force of the images they conjure up before it – the desparate anxiety to be doing something to relieve the pain, or lessen the danger which we have no power to alleviate and the sinking of soul and spirit which the sad remembrance of our helplessness produces, – what tortures can equal these and what reflections or efforts can, in the full tide and fever of the time, allay them!

[Erstausgabe, Vol. II: Chapter 32, S. 235]