Kleist besucht eine Bibliothek

Die großen deutschen Klassiker stehen meist nur in den Regalen, gelesen werden sie kaum. Das war schon vor 200 Jahren so.


Goethe, Wieland und Schiller werden heute wohl kaum noch gelesen, seis drum. Doch auch vor mehr als 200 Jahren standen sie offenbar nicht überall hoch im Kurs, mancherorts waren ihre Schriften alles andere als populär.

Dies zumindest ist jenem Briefe zu entnehmen, den Heinrich von Kleist am 14. September 1800 seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge schrieb. Dort lesen wir mit Erstaunen das Folgende:

Nirgends kann man den Grad der Kultur einer Stadt und überhaupt den Geist ihres herrschenden Geschmacks schneller und doch zugleich richtiger kennen lernen, als – in den Lesebibliotheken.

Höre was ich darin fand, und ich werde Dir ferner nichts mehr über den Ton von Würzburg zu sagen brauchen.

›Wir wünschen ein paar gute Bücher zu haben.‹ – Hier steht die Sammlung zu Befehl. – ›Etwa von Wieland.‹ – Ich zweifle fast. – ›Oder von Schiller, Göthe.‹ – Die mögten hier schwerlich zu finden sein. – ›Wie? Sind alle diese Bücher vergriffen? Wird hier so stark gelesen?‹ – Das eben nicht. – ›Wer liest denn hier eigentlich am meisten?‹ – Juristen, Kaufleute und verheirathete Damen. – ›Und die unverheiratheten?‹ – Die dürfen keine fordern. – ›Und die Studenten?‹ – Wir haben Befehl ihnen keine zu geben. – ›Aber sagen Sie uns, wenn so wenig gelesen wird, wo in aller Welt sind denn die Schriften Wielands, Goethes, Schillers?‹ – Halten zu Gnaden, diese Schriften werden hier gar nicht gelesen. – ›Also Sie haben sie gar nicht in der Bibliothek?‹ – Wir dürfen nicht. – ›Was stehen denn also eigentlich für Bücher hier an diesen Wänden?‹ – Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts die Rittergeschichten mit Gespenstern, links ohne Gespenster, nach Belieben. – ›So, so.‹ – –

[Kleist: Briefe an seine Braut 1884, S. 76]