Brief an Adele Schopenhauer

Vorbemerkung: Da die unten zitierten Worte aus einem Billett Adeles vom Dezember 1813 stammen, ist der nachstehende Brief wohl im Januar 1814 entstanden. Bei dem erwähnten Adjutanten handelt es sich um Ferdinand Heinke, der im Auftrag seines Vorgesetzten Anton von Kleist nach Weimar gekommen war, um den Widerstand gegen die Franzosen zu organisieren.


Meine liebste, teuerste Adele,

tut Dir der Stich in Deinem Herzen noch immer so weh? Es muss ja schrecklich für Dich sein. Darum will ich mich auch bemühen, Dir mit diesem Briefchen aufs Beste zu helfen, auf dass Dir weitere Stiche erspart bleiben mögen.

Ach, meine liebe Adele, Du bist  einfach zu herzensgut. Gibt es denn einen anderen Grund dafür, dass Du diesen feschen jungen Kerl so mir nichts, dir nichts aufgibst, ja nicht einmal versuchst, eine Bindung zu ihm aufzubauen? Brav wie Du bist, begnügst Du Dich damit, Deinen Herrn Adjutanten ehrfurchtsvoll aus der Ferne zu verehren, anstatt Dich ihm schwuppdiwupp an den Hals zu werfen. Was dabei herauskommt, hast Du ja gesehen: Eine andere hat sich Deinen Herrn Adjutanten geschnappt – und das, obwohl Du doch einen Vorsprung von wohl fünf Tagen hattest. War es nicht so?

Du hast  den Herrn Adjutanten doch sehr viel früher kennen gelernt, als dieses Fräulein von Pogwisch, die Du  wohl besser eine Natter denn eine Freundin nennen solltest. Sicher, Du konntest nicht ahnen, dass die Pogwisch ihn sogleich in ihre Fänge bekommen würde, doch noch war es ja nicht zu spät, noch immer nämlich hättest Du  die Reißleine ziehen können. Aber nein, einen Kampf wolltest Du der Pogwisch ja gar nicht erst liefern.

So begnügst Du Dich mit einem Platz in der zweiten Reihe, sitzest  dort nun also traurig rum und findest keine anderen Worte, als: ›Wir sind wirklich in einer traurigen Lage, denn fast liegts am Tage, dass wir beide ein und dieselbe Person lieben.‹

Also ehrlich, das kann doch wohl nicht Dein Ernst sein? Aber ich will nicht so streng mit Dir  sein, die Du ja noch so furchtbar jung an Jahren bist. Aber wer weiß? Mit der Pogwisch wird es möglicherweise gar nichts werden, dann wäre Dein Herr Adjutant wieder frei für Dich. Eine zweite Chance solltest Du aber in jedem Falle nutzen.

Adieu, meine liebste Adele, adieu. Grüße an alle.

Unterschrift

PS: Wie geht es Deinem Bruder? Ich fürchte, eines Tages wird er es sich mit Deiner Mutter verderben. Gib also Acht auf ihn.